Weibliche Genitalbeschneidung: Mehr Prävention, Versorgung und Rekonstruktion nötig (2024)

Weibliche Genitalbeschneidung: Mehr Prävention, Versorgung und Rekonstruktion nötig (1)Weibliche Genitalbeschneidung: Mehr Prävention, Versorgung und Rekonstruktion nötig (2)

In Deutschland sind immer mehr Mädchen und Frauen von der weiblichen Genitalverstümmelung bedroht oder werden hier wegen der Folgen versorgt. Die ärztlichen Aufgaben bei der Prävention, Behandlung und Rekonstruktion sollten daher immer deutlicher in den Mittelpunkt rücken.

Weibliche Genitalbeschneidung: Mehr Prävention, Versorgung und Rekonstruktion nötig (3)

Zuwendung: Für Patientinnen, die von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen sind, ist es oft schwer, die geeignete Versorgung zu finden. Foto: peopleimages.com/stock.adobe.com

Ursprünglich in wenigen afrikanischen und arabischen Ländern praktiziert, mehren sich die Fälle von weiblicher Genitalbeschneidung migrationsbedingt in Europa. Diese rituelle Genitalbeschneidung – abgekürzt FGM oder FGM/C vom englischen „female genital mutilation/cutting“betrifft weltweit über 200 Millionen Mädchen und Frauen. Aus Scham wurden und werden die schlimmen physischen und psychischen Folgen dieser Körperverletzung oft verschwiegen. Das gilt bis heute auch in einigen Migrantischen Communitys, in denen an der tiefverwurzelten patriarchalischen Tradition festgehalten wird, die für die Reinheit des Mädchens, ihre Heiratsfähigkeit und als Schönheitsideal steht. Die Risiken, Schmerzen, chronischen Gesundheitsschäden und Todesfälle werden dabei völlig ausblendet. Den Zwiespalt vieler Mitglieder der Communitys, mit der Tradition ganz zu brechen oder trotz besseren Wissens an der verbotenen Beschneidung ihrer Töchter entweder durch Beschneiderinnen ohne Betäubung oder mit ärztlichem „Beistand“ in Narkose festzuhalten, beschreibt beispielsweise die britische Autorin Elisabeth George in einem Roman (1).

Durch das Trauma leiden die Frauen unter der Form- und Funktionsstörung des äußeren Genitales mit Gewebezerreißungen bei Geschlechtsverkehr oder Geburt, an Infektionen durch Abflussbehinderungen von Urin und Menstrualblut, an Narbenschmerzen, einem unerfüllten Sexualleben und an psychischen Störungen.

Dass die Beschneidung von Mädchen abgeschafft werden muss, darin ist sich die Ärzteschaft, vertreten durch die WHO (2), einig. Wichtig für eine wirksame Prävention und für eine gute medizinische Behandlung ist, dass alle Aspekte, seien sie medizinische, anthropologische, sozio-kulturelle, juristische und ökonomische, beleuchtet werden.

In Deutschland wird das Problem FGM oft marginalisiert (3). Nach Schätzungen des Bundesfamilienministerium aus dem Jahr 2020 sind hierzulande etwa 67000 Frauen betroffen und bis zu 14752 Mädchen gefährdet (4), mit einem Anstieg um rund 40 Prozent zwischen den Jahren 2017 und 2022.

Die Arbeit von Hilfsorganisationen gegen FGM erwirkte eine Reihe von Maßnahmen, die inzwischen in geltendes Recht umgesetzt wurden. Dazu zählt das Verbot der Verstümmelung weiblicher Genitalien seit 2013 im Strafgesetzbuch unter §226a, das mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren geahndet werden kann.

Mit der Ratifizierung des „Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“, auch „Istanbul Konvention“ genannt (5), wurde 2017 ein praktikables Instrument gegen jegliche Gewalt an Schwächeren, also FGM miteinschließend, geschaffen. In Deutschland trat das Abkommen 2018 in Kraft, gilt allerdings erst seit Februar 2023 uneingeschränkt. Wenig bekannt ist, dass die darin enthaltenen Verpflichtungen auch für den medizinischen Bereich gelten. Daher muss die Handschrift ärztlicher Expertise in der geforderten, ganzheitlichen Strategie des Nationalen Aktionsplans gegen Gewalt klar genug erkennbar werden.

Damit die Vorgaben auch umgesetzt werden, evaluiert die unabhängige Expertengruppe zur Überwachung der Umsetzung der Istanbul-Konvention (Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence, kurz GREVIO) die Vorhaben und zeigt weiteren Handlungsbedarf auf (6). GREVIO spricht in Bezug auf Deutschland 2022 den Arbeitsgruppen und Netzwerken gegen FGM großes Lob aus und unterstreicht die Bedeutung lokaler Interventionsketten von staatlichen und nicht staatlichen Organisationen wie beispielsweise die runden Tische zu FGM in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Berlin-Brandenburg und bei der Stadt München (3). GREVIO zeigt „große Zufriedenheit“ mit der Empfehlung der Bundesärztekammer von 2016 zum Thema (7) und der für Hebammen verpflichtenden Erstausbildung zu FGM. 2022 beschloss der Deutsche Ärztetag, zum einen die Prävention in den Kinderpraxen und zum anderen die Weiterbildungsordnung (MWBO) in Gebieten wie Allgemeinmedizin, Chirurgie, Urologie, Psychosomatik und Psychotherapie zu verbessern (8).

Um die Situation für betroffene Frauen zu verbessern, müssen die formulierten Ziele und Handlungsanweisungen noch im medizinischen Alltag gelebt werden. Die ärztliche Verantwortung muss hinsichtlich der Prävention, der Behandlung im Praxisalltag und Notfällen sowie der chirurgischen Rekonstruktion des Genitales weiter konkretisiert werden.

Prävention bei Kindern, Schwangerschaft und Geburt

Eine erste Säule ist die Prävention: So kann bei den schon bestehenden Vorsorgeuntersuchungen von Kindern und Schwangeren die Problematik von FGM angesprochen werden. Beispielsweise durch eine Ergänzung der „Checkliste U6“ im „gelben Untersuchungsheft“ für Kinder kann der Befund der unbeschnittenen Genitale von allen Kindern – somit auch von FGM bedrohten Mädchen – einschließlich der Aufklärung über die rechtliche Lage zur Beschneidung in Deutschland dokumentiert werden. Anschauliche und kultursensible Schulungsmaterialien von Hilfsorganisationen und Fachgesellschaften helfen dabei.

Während der Schwangerschaftsvorsorge können mit Einverständnis der betroffenen Frau Gespräche mit Kultur- oder Sprachmittlern geplant und der Ehemann oder weitere Familienmitglieder miteingebunden werden. Der Mutterpass bietet auf Seite 4 „Beratung der Schwangeren“ oder auf den Seiten 5 und 6 „Anamnese/Befunde“ Platz zur Dokumentation, dass eine Aufklärung zur notwendigen Defibulation bei der Geburt, zur gesetzlichen Untersagung der Refibulation nach der Geburt, zum Verbot einer rituellen genitalen Beschneidung von Neugeborenen und Mädchen in Deutschland stattfand. Dort sollte auch vermerkt werden, wie der seit 2021 bestehende Schutzbrief des Bundesfamilienministeriums Mädchen im Ausland vor FGM unterstützt (9).

Sicherheit im Praxisalltag und bei Notfällen in der Klinik

Die zweite Säule ist die Verbesserung der alltäglichen Versorgung der Betroffenen. In Deutschland hat das ärztliche und medizinische Personal mit eigenen Augen kaum Lokalbefunde nach einem Beschneidungstrauma gesehen. Hilflosigkeit oder Erschrecken in den Gesichtern der Helfer zu sehen, stigmatisiert und traumatisiert Betroffene erneut. Daher sollte bereits im Studium eine sensible und professionelle Reaktion erlernt werden.

Symptome nach FGM müssen als Differenzialdiagnosen nicht nur in der Gynäkologie bekannt sein. SOPs für den professionellen Umgang mit beschnittenen Frauen gehören in Nothilfen, Kreißsälen und Stationen hinterlegt, denn nicht alle Ärztinnen und Pfleger wissen, wie ein Blasenkatheter nach Infibulation in die Harnröhre gelegt wird oder dass ein Kaiserschnitt bei FGM aus Unkenntnis der Vorgehensweise niemals erfolgen darf. Außerdem sollten Kontaktadressen von Kultur- und Sprachmittlerinnen auf den Stationen vorliegen. Jenseits der medizinischen Versorgung ist es wichtig, dass auch ausgebildete Ärztinnen für gerichtliche Verfahren bei Aufenthaltsfragen, Abschiebungs- und geschlechtsspezifischen Asylverfahren verfügbar sind, die eine Menschenrechtsverletzung im Sinne von FGM erkennen und attestieren können.

Die dritte Säule der ärztlichen Aufgaben bei FGM ist die chirurgische Rekonstruktion. Sie ist notwendig, um chronische Schmerzen zu lindern, eine vagin*le Entbindung, den ungestörten Abfluss von Harn- und Menstrualblut, einen natürlichen Geschlechtsverkehr sowie klitoral vermittelte Empfindung zu ermöglichen.

Im Juni 2022 veröffentlichten die zuständigen Fachgesellschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz zwei Publikationen zu FGM: „Weibliche genitale Fehlbildungen“ (10) (obgleich der Titel nicht auf FGM hinweist) und die aktualisierte S2k-Leitlinie „Rekonstruktive und Ästhetische Operationen des weiblichen Genitales“ (11).

Zum ersten Mal wurden zwei eigene Kapitel (3 und 5) zu FGM in diese Leitlinie aufgenommen. Dort werden die körperlichen und psychischen Folgen, die Besonderheiten bei Schwangerschaft und Geburt, die Indikation und Operationsverfahren der Rekonstruktion thematisiert.

Spezialisierte chirurgische Versorgung zur Rekonstruktion

Das Kapitel Rekonstruktion im Kindesalter zeigt eine abwartende Haltung bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung ab 16 Jahren beziehungsweise ab Volljährigkeit. Diese Einstellung wird auch von Spezialisten und Betroffenen kritisch hinterfragt, da das Risiko für protrahierte Schmerzen und Harnwegsinfekte um all die Jahre bis zu einer Rekonstruktion verlängert und eine altersübliche Entwicklung in der Pubertät erschwert werden.

Die Leitlinie betont die Bedeutung der empathischen Kompetenz des Chirurgen, die Notwendigkeit von Interdisziplinarität einschließlich Sexual- und Psychotherapien. Eine alleinige psychotherapeutische Behandlung gilt als problematisch und vom klinischen Befund und der Anamnese abhängig.

Dabei ist nicht jede Operation eine Rekonstruktion. Relevante technische Unterschiede der Operationsmethoden bieten eine große Spannbreite. Diese reicht von einer einfachen Eröffnung bis hin zur aufwendigen anatomischen Wiederherstellung des äußeren weiblichen Genitales mit Lappenplastiken und mikrochirurgischen Rekonstruktion der Klitoris. Besonders die letztgenannte aufwendige NMCS-Prozedur (Neurotizing and Molding of the cl*toral Stump) bietet die Voraussetzung zur Normalisierung von Form und Funktion der Klitoris als gesamtes Organ und unterstützt die Wiedererlangung der sexuellen Integrität (12).

Je nach Wahl der Methode können die OP-Resultate den Erwartungen der Frauen entsprechen, wobei – wie bei allen Operationen – der vertraute Umgang und die ärztliche Erfahrung mit der entsprechenden Methode eine wichtige Rolle spielen. Für den weiteren Verlauf bietet die prä- und postoperative Begleitung im interdisziplinären Setting eine wesentliche Unterstützung.

Strukturen zur Behandlung und adäquate Vergütung

Die Kosten einer medizinisch indizierten Rekonstruktion werden in Deutschland von den Krankenkassen erstattet. Dies ist seit 2013 mit der Klassifikation der vier Typen weiblicher Genitalverstümmelung mit dem ICD-Code Z91.7- möglich (13). Allerdings fehlen verbindliche, einheitliche, standardisierte Qualitätsvorgaben wie Fachkenntnisse, Kompetenzen und Qualitätszirkel sowie möglicherweise in Zukunft auch Mindestmengen für die unterschiedlich aufwendigen Operationsmethoden. Dies wird derzeit finanziell nicht adäquat abgebildet. Eingriffe dieser Art sind in einer standardisierten Form sowohl zentral (Zentrumsstruktur) als auch dezentral (Kooperationsstruktur) realisierbar – wichtig ist die Erfahrung der Operateure. Diese sammelt beispielsweise das Zentrum für „Rekonstruktive Chirurgie weiblicher Geschlechtsmerkmale“ am Luisenhospital in Aachen sowohl bei Operationen anderer genitaler Verletzungen, Dermatosen, Fehlbildungen, Tumoren als auch durch das langjährige Engagement bei Fällen von FGM.

Nicht nur im stationären, sondern auch im ambulanten Sektor werden der Aufwand und die Besonderheiten der Versorgung von Patientinnen nach FGM nicht hinreichend abgebildet. So ist zum Beispiel der erhöhte Zeitaufwand bei der Betreuung der Patientinnen im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) nicht abgebildet. Dies zeigt beispielsweise ein Fall der Münchner Gynäkologin Dr. Eiman Tahir, deren Praxisschwerpunkt nach eigener Aussage die Betreuung von Frauen nach FGM liegt. Die aus dem Sudan stammende Ärztin berichtet über ausführlichere Gespräche, hohe Sprach- und Kulturbarrieren, die die Anamnese sowie die Behandlung gegenüber nicht traumatisierten Frauen deutlich verlängern (14). Eine Anerkennung der Versorgung von FGM als Praxisschwerpunkt durch die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) wurde nach ihrer Aussage bislang abgelehnt. Im Dezember 2022 wurde der noch schwebende Abrechnungsstreit mit der KVB über 130000 Euro sowie einer Strafe von 17000 Euro öffentlich. In einer Online-Spenden- und Solidaritätsaktion wurden binnen 48 Stunden 150000 Euro gesammelt, um die Praxis, die nach eigenen Angaben pro Quartal 800 bis 900 Patientinnen mit FGM versorgt, vor dem finanziellen Aus zu retten. Der Fall erregte bei Lokal- und Landespolitikerinnen und -politikern Aufsehen.

Damit FGM-Sprechstunden nicht Universitäten vorbehalten bleiben und darauf spezialisierte Praxen weiterarbeiten können, braucht es eine neue Vergütungsregel im EBM. Wie bei anderen problembehafteten Erkrankungen bereits geschehen (15), könnte eine Zusatzpauschale für die Behandlung im Rahmen einer qualitätsgesicherten, spezialisierten Versorgung von den zuständigen Gremien ausgehandelt werden.

Die medizinische Versorgung von betroffenen Frauen hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert, auch der rechtliche Schutz hat mehr Anker bekommen. Nun müssen die neuen Erkenntnisse und Regelungen zu FGM in die bereits vorhandenen Strukturen von Weiterbildung und Versorgung implementiert und gelebt werden, damit hilfesuchenden Frauen in Deutschland adäquat geholfen wird.

Dr. med. Ursula von Gierke
Fachärztin für Innere Medizin, Tropenmedizin und Infektiologie, Beraterin, Koordinatorin, Trainerin für Ethik in der Medizin (AEM)

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit1523
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